Warum wir Scham ablegen müssen – und an anderer Stelle wieder neu brauchen
Wir sprechen in unseren Gruppen und Therapien oft über Scham. Fast immer taucht sie als etwas Dunkles, Lähmendes auf. Sie
engt ein, macht stumm, zieht uns innerlich zusammen. Scham lässt uns erröten, ausweichen, unsichtbar werden. Viele kennen sie als ständigen Begleiter: als Stimme im Kopf, die sagt:
„So wie du bist, bist du nicht richtig.“ „Ich bin nicht gut genug“ „Meine Gefühle sind falsch““Peinlich wie Du Dich benimmst“
Diese Scham kommt nicht von ungefähr. Sie ist geprägt durch unsere Erfahrungen – in Familien, durch beschämende Regulierung in Schulen, durch religiöse Angstpädagogik oder Gesellschaft. Oft sitzt sie tief im Körper. Besonders die sexuelle Scham wurde vielen von uns früh eingepflanzt: durch entwertende Blicke, strafende Worte, Schweigen, Kontrolle. Ein kurzer Moment kindlicher Neugier, der mit harten Sanktionen beantwortet wurde.
Wir nennen sie toxische Scham – sie ist das Ergebnis früher Zurückweisungen, rigider Moralvorstellungen oder verletzender Erziehung. Glaubenssätze wie „Hochmut kommt vor dem Fall“, „Eigenlob stinkt“; „Bescheidenheit ist eine Tugend“ oder „Nimm dich nicht so wichtig“ legen sich lähmend auf Selbstwert und Handlungsfähigkeit. Gerade im Bereich von Körperlichkeit und Sexualität erleben viele Menschen eine langanhaltende Beschämung. Sie wurden zum Schweigen gebracht – und tragen diesen inneren Bann bis heute mit sich.
Und unser Wunsch ist klar: Wir wollen sie loswerden! Frei werden. Schamlos. Unverschämt lebendig. Wer sich befreit, darf sich endlich zeigen – mit Lust, mit Körper, mit Liebe.
Das ist ein heiliger, ein wichtiger Schritt. Ein Akt der Selbstermächtigung. Denn um lebendig, frei und beziehungsfähig zu sein, brauchen wir nicht Selbstverkleinerung, sondern Selbstannahme und Selbstliebe.
Schamlosigkeit – ein gesellschaftliches Ungleichgewicht
Doch während wir uns therapeutisch und persönlich von dieser lähmenden Scham befreien, fällt mir etwas anderes auf – ein gesellschaftlicher Trend, der mich irritiert, ja sogar empört.
In Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit scheint sich eine ganz andere Form von Schamlosigkeit breitzumachen: persönliche Bereicherung auf Kosten der Gemeinschaft, Größenwahn, Hassbotschaften, Machtmissbrauch, skrupellose Vetternwirtschaft. Menschen, die sich nicht einmal mehr die Mühe geben, ihr Fehlverhalten zu verbergen.
Und in mir regt sich ein Impuls, laut zu werden:
„Schämen Sie sich – bitte, schämen Sie sich!“
Jetzt kommt er plötzlich von mir selbst, der Ruf nach Scham. Aber diesmal nicht als etwas, das wir loswerden wollen – sondern als etwas, das offenbar fehlt.
Hier fehlt nicht der Mut – hier fehlt Anstand.
Hier fehlt jene gesunde Scham, die nicht beschämt, sondern an das Gemeinwohl erinnert.
Ein Gefühl, das nicht zerstört, sondern uns mit anderen verbindet.
Freiheit ohne Werte? Der zweite Schritt nach der Befreiung
In der Therapie geht es oft darum, alte, lähmende Scham zu erkennen – und sich davon zu lösen. Doch diese Befreiung ist kein Endpunkt, sondern ein Übergang.
Denn: Wenn wir uns von den moralischen Fesseln der Vergangenheit befreien, brauchen wir neue, tragfähige Formen des Zusammenlebens. Nicht einfach als individuelles Gefühl, nicht aus reinem Bauchgefühl oder persönlicher Vorliebe – sondern als kollektiven Prozess.
Moralische Orientierung entsteht nicht allein. Sie wächst nicht still im Inneren des Einzelnen, sondern im Dialog, im Diskurs, im gemeinsamen Ringen:
- Was ist richtig?
- Was ist falsch?
- Was dient dem Leben – und was verletzt es?
Solche Fragen verlangen nach einem offenen, wertebasierten Gespräch – nicht nach schnellen Antworten oder starren Regeln. Ein gemeinsamer ethischer Kompass entsteht nicht einmalig, sondern immer wieder neu, im Spiegel der Zeit und der Beziehungen, in denen wir leben.
Ein neuer Anstand – jenseits von Konvention und Kälte
Wenn wir die Fesseln der Vergangenheit sprengen –
wenn wir alte, lebensfeindliche Konventionen hinter uns lassen –
dann braucht es neue Leitlinien, die nicht von außen aufgedrückt werden, sondern aus einem inneren, reifen Ethos entstehen.
Ich träume von einem Anstand, der aus Achtsamkeit kommt.
Von einer Ethik der Zuwendung, der Solidarität, des Mitgefühls.
Von einem liebevollen Humanismus, der nicht verurteilt, sondern schützt.
Von einer Freiheit, die nicht rücksichtslos ist – sondern verbunden.
Von einem Glück, das nicht auf Kosten anderer entsteht – sondern im Miteinander.
Was wir brauchen, ist keine neue Moralkeule – sondern neue Menschlichkeit.
Ein wertebasierter Anstand, der niemanden herabsetzt, beschämt oder ausgrenzt –
aber sehr klar benennt, wo Grenzen verletzt werden.
Eine Rückverbindung an das, was uns wirklich wichtig ist:
Würde. Gerechtigkeit. Wahrhaftigkeit.
Liebe.
In diesem Sinne verstehe ich auch unsere therapeutische Arbeit in der Persönlichkeitsentwicklung:
In unseren Trainings geht es nicht nur darum, Durchsetzungskraft, Selbstverwirklichung und individuelle Freiheit zu fördern, sondern auch die Fähigkeit, tragfähige Freundschaften und Netzwerke zu
knüpfen – getragen von mitfühlender sozialer Intelligenz.
Ich wünsche mir mit unserer Arbeit, den Planeten etwas freundlicher zu gestalten. ;-)
Christoph Swoboda
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